Reisen, Fremderfahrung, Welterfahrung als Themen mittelalterlicher Literatur
Die starke interkulturelle Prägung, die Existenz einer überdachenden lateinisch-europäischen Schriftkultur und die Mobilität der Bildungsschichten und des Adels verleihen den mediävistischen Disziplinen insgesamt einen markant interdisziplinären Charakter. Dieser wird dadurch noch zusätzlich befördert, dass Erfahrungen und Auseinandersetzung mit dem nahen und fernen Orient, seinen Ethnien und Religionen vor allem in der volkssprachigen Literatur der Zeit gespeichert und 'ausverhandelt' werden.
Mittelalterliche Romanhelden reisen viel, mitunter freiwillig, mitunter durch Schiffbrüche und Seestürme getrieben. Dabei gelangen sie in Welten, die erst in der Neuzeit wirklich entdeckt und kartographiert werden, über die es aber viel früher schon feste, wiewohl eher aus der antiken Enzyklopädik als aus Erfahrung gewonnene, Vorstellungen gab: das reiche und prachtvolle Indien, die Wüsteneien um Babylon, die Inseln des Ozeans.
Der Blick in die nur scheinbar so ferne literarische Vergangenheit öffnet hier auf Schritt und Tritt Fenster für ein besseres Verständnis des Fremden, scheinbar Bedrohlichen inmitten der globalisierten Welt von heute. 'Mediävistik' und 'mediävistische Erkenntnis' bedeutet insofern stets auch, in der literarischen Überlieferung vergangener Zeiten die Bedingtheit des Eigenen und das eigene Recht des je Fremden zu erkennen, im mittelalterlichen Eigenen das heutige Fremde zu spiegeln und aus dem einen heraus das andere ressentimentfreier, objektiver wahrnehmen zu lernen. Gerade mit Blick auf die muslimische Welt, die seit dem Mittelalter konstant im Blick europäischer Dichter und Gelehrter stand, ist solche Erkenntnis wertvoll.