Der mediävistische Literaturbegriff
Der heutige Literaturbegriff ist wesentlich von der Gattungstrias aus Lyrik, Epik und Drama geprägt. Für das Mittelalter (wie auch bereits für die Antike und noch für die Frühneuzeit) muss er erheblich weiter gefasst werden - was im übrigen dem spezifischen Profil der Germanistik am KIT entgegenkommt: Fach- und Sachtexte aller Art, vom Rezeptbuch bis zum Wörterbuch, vom Reisebericht bis zur Enzyklopädie, von der Chronik bis zur Rechtssammlung, fallen neben den im engeren Sinn 'belletristischen' Textsorten unter den 'weiteren Literaturbegriff', den die Mediävistik entwickelt hat.
Dabei ist eine gewisse Dominanz der kanonischen 'Klassiker' wie Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg in Studium und Lehre ganz üblich und legitim. Indes werden diese klassischen Themen und die 'Leitgattung' Roman regelmäßig von Genres flankiert, in denen Literatur und Wissen, Ästhetik und Pragmatik konvergieren, so Chroniken und Enzyklopädien (als Speicher des jeweils gültigen Weltwissens), Reiseberichte und -fiktionen (als Dokumente imaginärer oder realer 'Horizonterweiterungen'), Schulbücher und Fachtexte (als Indikatoren und Wirkkräfte technisch-kulturellen Wandels).