Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter: Der interkulturelle Kontext
Nicht nur, doch gerade in den wissens- und technikaffinen Bereichen steht die deutschsprachige Literatur des Mittelalters in einem umfassenden nachbarsprachlichen Kontext, der nicht unbedingt mit zu wissen, doch zumindest mit zu (be)denken ist: Latein, die 'Vatersprache' der Bildungsschicht, ist die bis um 1700 fast unangefochtene Sprache der Wissenschaft und Verwaltung, dazu der durch Sprachgrenzen kaum tangierten Kommunikation unter den Gebildeten Europas. Es erfüllte über ein Jahrtausend in etwa die Rolle, die in der Gegenwart das Englische übernahm: Wer es konnte, wurde in der Wissenschaft und im Ausland verstanden und war Teil einer europaweiten Wissenskultur.
Auch von der schon quantitativen Relevanz des Lateinischen abgesehen, ist die Literaturlandschaft des Mittelalters durch intensive sprach- und kulturübergreifende Kontakte charakterisiert, die durch Italien- und Orientzüge, integrative Hoffeste und eine beachtliche Mobilität der Bildungsschicht an Schulen und Universitäten ermöglicht wurden. Gattungen wie der höfische Roman, die Stoffe um Tristan, Artus und Karl den Großen, die Sagenwelt der Antike (Troja, Alexander, Aeneas, Ovids Metamorphosen) sind in allen mittelalterlichen Volkssprachen zu Hause, und häufig gelangten sie erst über Frankreich, die Niederlande und Oberitalien ins Deutsche. Umgekehrt strahlten Stoffe der germanisch-deutschen Heldensage wie die Nibelungen, Siegfried von Xanten und Dietrich von Bern bis nach Norwegen und Island aus.